Heide Nixdorf
Prof. Heide Nixdorff hat den Lehrstuhl für "Kulturgeschichte der Textilien" an der Universität Dortmund inne. Ihre bekanntesten Veröffentlichungen über die Farbpsychologie der Kleidung ist "Weiße Westen - Rote Roben" (Berlin  1983, zusammen mit Heidi Müller). Die gebürtige Berlinerin arbeitet mit im Vorstand der "Anthroposophischen Akademie für Gegenwartsfragen".

Volker Harlan
Volker Harlan ist Pfarrer in der Christengemeinschaft in Bochum . Er leitet die "Akademie der Universität Witten/Herdecke", das monatliche Gespräch aller Dozenten an der Universität. Seine bekannteste Veröffentlichung ist: "Was ist Kunst? Werkstattgespräch mit Joseph Beuys, Urachhaus, 4.Auflage 1992.


Gedanken zur Neugestaltung der Gewandung des Leichnams

Heide Nixdorff

Noch in den sechziger Jahren war es im Orient Brauch, den Gast beim Antritt eines Besuches mit einem besonderen Geschenk zu empfangen, einem Schal, Schleier oder Tuch; beim Abschied aber ihn durch Haus, Hof und Gelände zu geleiten, bis der bekannte Heimweg gefunden war. *Hüllen, umfangen* beim Eintritt durch die Gastgeberin, *deuten, weisen in die Ferne* durch den Gastgeber beim Abschied. Beschenken und Bewirten vermittelt Nähe, Behaglichkeit, Wohlbefinden, das Weisen in die Ferne leitet Trennung und Einsamkeit ein. Der Besuch hier noch als Abbild des Auftritts des Menschen im Erdendasein.
Aus der Kulturgeschichte kennen wir linnene Tücher, in die das Neugeborene gehüllt wurde, zeitweise auch Fatschenbänder, mit deren Hilfe eine strenge Wickelung erfolgte. Als Lagestatt diente ein möglichst bewegliches Gehäuse, eine Hängematte, eine Wiege usw., um an das Einwohnen auf dem "Festland" zu gewöhnen. Das textile Element wird hier zum sensiblen Umfeld, in dem die Physis erblühen kann.

Welche Rolle spielt aber die Gewandung des Leichnams? Obgleich sich die Forschung der Frage nach Bestattungsbräuchen in der Geschichte wieder vermehrt zuwendet, eine Untersuchung zur Geschichte der Totengewandung steht noch aus. Das mag einerseits mit der raschen Vergänglichkeit des Textilen zusammenhängen, in erster Linie jedoch ist es eine Bewußtseinsfrage. Solange die Forschung - auch auf kunst- und kulturwissenschaftlichem Felde - Männerdomäne war, wurde dem meß-, zähl- und wägbaren Objekt gern der Vorrang gegeben. Särge können nach Form, Stil, Etymologie und Funktion klassifiziert und typologisiert und damit sicherer Anker für Bestattungsforschung werden. Das fragile, leicht zerstörbare textile Materialgefüge, das aufgrund seiner Beschaffenheit eine natürliche Nähe zu den stets veränderbaren Lebensprozessen zeigt, widersetzt sich von selbst solcher wissenschaftlichen Gesinnung. Ein weiterer erschwerender Grund, sich mit dem textilen Umfeld des Verstorbenen auseinanderzusetzen, ist sicher aber auch der, daß man dem jahrhundertelang gefürchteten Thema Sterben sehr viel genauer ins Auge zu schauen hätte. Und daß der Tod erst jetzt allmählich wieder im Begriff ist, in ganz neuer Gestalt in unser Bewußtsein zu treten, daß er als Lebenstatsache angeschaut werden kann, ist durch Publikationen hinlänglich bekannt.*
Wenden wir uns den wenigen Zeugnissen zur Bestattung des Toten im christlichen Abendland zu, so zeigt sich, daß die Handlungen, Geräte und Objekte eng im Zusammenhang mit den Vorstellungen und Erfahrungen über den jeweiligen Charakter des Todes gesehen werden müssen.
Solange der Tod noch als Bruder des Schlafes galt, wurden Lebende und Tote ganz selbstverständlich mit- und nebeneinander im Spital versorgt.* Der Leichnam wurde nur zu längerem Schlafe gebettet. Das Sterben wurde erlebt und gestaltet als Übergangsritus, als ein "Zeltabbruch in Erwartung eines ewigen Hauses", als ein "Entkleidetwerden, um nackt und fremd einer Neubekleidung" entgegenzugehen.* Die Dienste und Ehrungen für den Verstorbenen, zum Beispiel die Waschungen, das Besprengtwerden mit Weihwasser und das Anlegen des Totenhemdes - die Lebenden schliefen noch unbekleidet -, konnten eher in Parallelität zu anderen Übergangsriten wie etwa der Taufe gesehen werden. Um Jerusalem und später des Jüngsten Gerichtes ansichtig zu werden, wurde er mit dem Gesicht zum Himmel nach Osten "schauend" im Sterbehaus oder in der Kirche aufgebahrt. So konnten die Hinterbliebenen als treue* Wegbegleiter Abschied vom Verstorbenen nehmen. Der einzige Prunk, der standesgemäß entfaltet werden konnte, bezog sich auf das Bahrtuch. Von reinen weißen Leintüchern, von kostbaren farbigen Stoffen bis hin zu golddurchwirkten Geweben wird berichtet.*

Daß der Bestattungsritus in Gemeinden mit lebendigem Christentum auch später weniger Gefahr lief, in übertriebene Prachtentfaltung zu entarten, hängt gewiß mit der Grundauffassung in Matthäus 8, 22 bzw. 22, 23 zusammen, wo es heißt: "Laßt die Toten ihre Toten begraben"! Er ist doch nicht der Gott der Toten, sondern der Gott der Lebenden!* Der Medievist Ohler weist darauf hin, daß erst Benedikt die Bestattung im Rahmen der Werke der Barmherzigkeit aus dem 7. Bedeutungsrang in den 4. überführte.
Mit dem l3. Jahrhundert trat die geschilderte theologische Sinndeutung über den Tod zurück. Er erschien jetzt mehr und mehr als Ende eines Lebensprozesses, das durch Verwesung des Leibes abgeschlossen wurde. Dieser Abbruch löste unerträglichen Schmerz in den Hinterbliebenen aus. So scheint es wie folgerichtig, daß man den Leichnam möglichst rasch den Blicken der Angehörigen entzog. Einschließlich des Hauptes wurde er in Leintücher eingenäht und/oder in einem einfachen Sarg der Erde übergeben. Der aufsteigenden Angst vor den toten Seelen oder vor Dämonen kam man zum Beispiel durch Glockengeläut und dem Anzünden von Kerzen bei.
Mit zunehmender Hinwendung zum irdischen Leben, der Apotheose des Hier und Jetzt, wurde beim Lebensabschied von den Hinterbliebenen ein Erinnerungsbild vom Verstorbenen entworfen. Man legte dem Leichnam seine standesgemäße Festkleidung an (nach Geistlichen, Adligen, Rittern usw.), bahrte ihn auf und ließ von Künstlern ein naturgetreues Abbild in Holz, Wachs oder Stein ausführen. Diese Repräsentationsfigur auf dem Sarg oder der Grabplatte verewigte die abgeschlossene Biographie des Verstorbenen.
Neben dieser "barocken" Gesinnung dem Tod gegenüber, die uns gelegentlich noch heute begegnet, macht sich besonders seit dem l9. Jahrhundert zunehmend eine Tabuisierung des Lebensendes breit. Nicht mehr die Weisheit des Alters wird verehrt, sondern der Mensch auf dem Höhepunkt seiner Karriere. So werden Krankheit, Alter und Tod als Lebenserfahrung gemieden, anonymisiert, verdrängt, verheimlicht. Der gebrechliche Kranke wird dem Spezialisten überlassen: sein Leib der Sterilität und Medikalisierung durch die Ärzte, seine Seele den Seelsorgern oder Sozialpflegern, das Totenritual der Bestattungsfirma. Weil das Lebensende aus dem Bewußtsein gewichen ist, hat man nicht vorgesorgt. Soll man ein Totenhemd wählen, einen würdigen Anzug, eine Sargausstattung in neutralem Weiß, in gedeckter Farbigkeit, einen Sarg in Schwarz, in gedrechselter Eiche? Die Firma hält für jeden Geschmack etwas bereit! Kommt eine Aufbahrung in Frage, wird der Tote vor allem geschminkt. Statt Alter und Tod wird Jugend und Leben vorgespielt. Die Lüge soll über den Tod hinweghelfen. Soweit dem Verstorbenen noch ein Denkmal gesetzt wird, ist es häufig eine Allegorisierung des Todes in Form einer Geniendarstellung oder einer Lebensidealisierung. Der Name wird verbunden mit den Meriten, die er im Leben erwarb. Heute wird auf Erinnerungszeichen weitgehend schon ganz verzichtet.
In den letzten Jahren ist eine deutliche Wende gegenüber dem Thema Tod eingetreten. Es wird von einer "Wiederkehr des Todes" gesprochen. Die Frage nach dem Beschluß des eigenen Selbst, Grenzerfahrungen an den Horizonten des Lebens, das Interesse an Übergängen und Grenzüberschreitungen, aber auch die vielen dem 20.Jahrhundert eingeschriebenen apokalyptischen Ereignisse haben die Frage nach Gestalt und Bedeutung des Todes wieder in den Blick gerückt.
Forschung und Gestaltung beginnen, sich das Thema "Tod" neu zu erschließen.*
Die hier mit wenigen Strichen gezeichnete historische Skizze zu den Bestattungsbräuchen bezüglich der Gewandung des Leichnams setzt zwei Grundbilder frei. Je deutlicher der Vorgang des Sterbens als "Kleiderwechsel", als eine Zustandsveränderung erlebt wurde, desto natürlicher reihte sich die Totenfeier als Glied in die übrigen lebensbegleitenden Übergangsriten ein. Das Weiß des Totenhemdes mahnte an Vorbereitung, Reinigung, Kultus, wie es die Taufe und Hochzeit ebenfalls begleitete. Es wurde meist schon während des Lebens als "memento mori" angefertigt. Je deutlicher das Bild vom Weg der Seele nach dem Tode wurde, je mehr wurde die Bestattung selbst zum Zentrum der Gestaltung. Der Verstorbene sollte noch einmal so erscheinen, wie er im Leben war: in würdevoller Kleidung aufgebahrt, umgeben von Reichtum und Machtinsignien durch einen bombastischen Sarg und aufwendiger Gruft. Bis man schließlich beliebig verfuhr oder den Tod möglichst unauffällig überstand.
Wo gibt es aus historischem Verständnis einen lebendigen, individuellen Kristallisationspunkt, um Motive für eine Neugestaltung zu formulieren? Können wir an ein christliches Grundverständnis anschließen, wie es in der Geschichte lebte, oder wie es heute neu formuliert werden kann? Als Zeitgenossen haben wir uns dem Tod so entfremdet, daß wir nicht aus einer Theorie oder Lehre schöpfen können. Wir müssen uns auf das Todesgeschehen selbst einlassen.
Die Entwürfe für eine neue Sarggestaltung, wie sie Bo Eriksson aus einem eigenen Farb- und Formenerleben des Sterbeprozesses entwickelte, fordern in diesem Sinne auf, die textile Innenausstattung und die sogenannte Bestattungswäsche ebenfalls neu zu entwerfen.
Zwei Aufgabenfelder zeichnen sich ab, wenn Angehörige, Pfleger und Hinterbliebene im Kontakt mit dem Verstorbenen bleiben. Zuerst gilt es, eine neue "Kultur im Umgang mit dem toten Leib"* zu entwickeln. Solange wir dieses kostbare Gut noch haben, sollten wir ihn so kleiden und betten, daß wir die Handgriffe mit liebender Hingabe, ja Wohlbehagen verrichten können: zum Beispiel in Leinenstoffe auf Kissen mit Holzwolle gefüllt. Ist dieser Vorgang abgeschlossen, soll das Abschiednehmen erfolgen. Abschiednehmen gebietet, Abstand zu ermöglichen, seine fühlenden Sinne zurückzunehmen, um ganz "Schauender" zu werden.

Die Gestaltung kann helfen. An die Stelle von Rüschen, Spitzen, künstlichen Glanzstoffen, Steppkonstruktionen, die eine unveränderliche letzte Ruhe vortäuschen, den Geist der Hinterbliebenen ablenken und ihn eher zum erneuten Betasten verleiten, wurden strenge, weisende Formen gesetzt. Das feine, kühle, lichte Leinen des Totengewandes und Plissee-Elemente sind angetan, Antlitz und Hände wie Pretiosen zu fassen, um die Aufmerksamkeit auf den Prozeß "der Reise" zu lenken, der sinnlich-sittlich wahrnehmbar wird. Die nach außen gröberen Stoffstrukturen bis hin zum Bahrtuch deuten an, daß jene Entfernung über das Haupt die Auflösung des Leibes bewirkt. Ein Hauch von Farbe in den nach außen schwerer werdenden Tönen der Sargaußengestaltung auf der Totendecke kann den Eindruck verstärken. Konzentration kann sich einstellen. Sie bildet die Grundlage, weiterzugehen, um des Todes neu ansichtig zu werden. Die Neugestaltung möchte Wegleitung sein.


Todesvorstellung und Bestattungskultur

Volker Harlan

Die Art, wie heute in Deutschland Verstorbene aufgebahrt werden, spiegelt das Bewußtsein von und das Verhältnis zu den Sterbevorgängen, wie sie allgemein vorhanden sind. Es gibt leidliche Verhältnisse wie in Bochum, wo man auch sonntags im Hauptfriedhof den Zugang zu den Aufbahrungskammern bekommen kann. Diese sind schlichte Räume mit einigen immergrünen Kübelpflanzen und einem Fensterchen. In Witten ist der Zutritt in einem neueren Friedhofsbau auch möglich, aber der Verstorbene liegt in einem Raum, den man nur durch ein Schaufenster betrachten kann. In Herne kann man den Verstorbenen im Hauptfriedhof nur dann sehen, wenn man den Angestellten bittet, den Sarg aus dem Leichenhaus in ein Schaufenster zu fahren, zu dem auch kein Zutritt ist, wenn man ihn sich nicht als Pfarrer erzwingt. Warten nun andere Leute auch, so heißt das, daß der Wärter bald ungeduldig wird. Den Kirchen ist das offenbar gleichgültig, sonst würden sie es geändert haben. Die Auffassung vom Tod ist bei unseren beiden Großkirchen dabei sehr verschieden. Im evangelischen Lexikon *Religion in Geschichte und Gegenwart* schreibt Althaus im Artikel "Tod":
"Der T. ist Ende, unbedingte, unüberschreitbare Grenze des Einzellebens. . . . Er ist Ende nicht etwa nur für die Leiblichkeit des Lebens, sondern für die ihrem Wesen nach leibhaftige irdische Existenz überhaupt. Gegen dieses Wissen kommt keine dualistische Theorie auf, nach der sich im T. die Seele vom Leibe trenne und selbst weiterlebe, geschweige denn parapsychologische Phänomene; was immer es um diese sei, sie können an dem existentiellen Wissen um die Totalität des T.es als Ende nicht irre machen. . . .
. . . Der T. zerbricht eben das, worin wir uns als Menschen erfahren. Die relative Selbstbestimmung versinkt im totalen Erleiden der Naturgesetzlichkeit, die Kraft zu erkennen und zu gestalten in völliger Ohnmacht; das Leben miteinander, die Gemeinschaft in Vertrauen und Dienst wird zerrissen; das Wachsein zu Gott endet in der Nacht der Bewußtlosigkeit; der T.schließt aus der Gemeinde, die Gott lobt, aus. In alledem ist der T. Feind.
. . . Daher die "Angst des Sterbenmüssens, die potentiell gegenwärtig ist in jedem Augenblicke" (P. Tillich), das Grauen vor dem T. als Versetzung in das Nicht-Sein." (RGG1962, Bd. VI, Spalte 914, 915)
Zu jener Zeit trat ein evangelischer Pfarrer in einer Versammlung auf und sagte: "Wenn ich tot bin, braucht für mich keiner zu beten: ich bin nicht mehr. " Er hat das also auch seinerseits nicht getan, sondern nur auf taktvolle Entsorgung geachtet. Auf dem Totenbette mag Althaus milder gedacht haben. Sein berühmter Kollege Barth nennt den Verstorbenen in seiner Bonner Credovorlesung schlicht und süffisant: "mausetot". Erlebt man hier die materialistische Weltanschauung in Reinkultur, so spricht "Der (katholische) Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung" (l965, S. 432) in einer Zusammenfassung noch sehr anders:
"Die Seelen, die ohne Sünde und Sündenstrafen aus dem Leben scheiden, gehen ein in die *ewige Seligkeit*. Die Seligkeit des Himmels besteht in der unmittelbaren *Schau Gottes*. . . . Die Seele, die noch zeitliche Sündenstrafen abzubüßen hat, kommt in den *Reinigungsort*. Die Gläubigen können den armen Seelen durch Gebete und gute Werke helfen. Die Seelen, die in schwerer Sünde aus dem Leben scheiden, kommen in die *Hölle*. Sie besteht für die Seelen, die nur mit der Erbsünde behaftet waren, im Verlust der Anschauung Gottes, für die Seelen mit persönlichen Sünden außerdem in der Höllenqual."
Über das Sterben selbst, über die drei Tage ist hier nichts ausgesagt.
Natürlich gibt es in beiden Kirchen heute andere, differenziertere Stimmen, aber in die Praxis haben sie nicht hereingewirkt. Wären sonst die Herner Verhältnisse (5l % römischkath. Bevölkerung) denkbar? Bestatter, die man nach der Möglichkeit der Hausaufbahrung fragt, erklären, daß diese verboten sei. Dieses Gewerbe müßte doch eigentlich Bescheid wissen. Auch hier waltet wohl "das Grauen vor dem Tode". Denn nach dem Gesetz ist Hausaufbahrung *nur* bei Seuchengefahr nicht erlaubt, sonst bis zu 96 Stunden! Man muß sie nur (durch den Bestatter) dem Gesundheits- oder Ordnungsamt (je nach Kommune) melden.
Die Anschauungen vom Sterben, die Rudolf Steiner entwickelt, sind gegenüber den oben zitierten von so fundamentaler Verschiedenheit, daß man schon verstehen kann, wenn das Vortragsthema des evangelischen Sektenbeauftragten dort, wo eine Waldorfschule gegründet wird, immer wieder heißt: "Ist die Anthroposophie mit dem Christentum vereinbar?" Aber siehe, schon die katholische Version ist mit Althaus' Auffassungen unvereinbar.
Dann kann man doch einmal unbefangen fragen, was Rudolf Steiner sagt. In umfangreichen Vorträgen ist das dargestellt (z. B. GA 9, 140, 141, 153, 157, 159/60, 161, 181, 261 usw.), und so will ich nur zwei Aussagen zitieren, die der evangelischen Theologie so ganz konträr gegenüber stehen; sie betreffen den "Todesaugenblick", d. h. die zwei bis vier Tage, in denen sich (im kühlen Europa) physischer und ätherischer Leib vom Seelenleib mit seinem Seelenkern (Ich) ablösen. Überwältigend ist, was Rudolf Steiner hier dem "Grauen vor dem Tode als Versetzung in das Nicht-Sein" gegenüberstellt.
"Von der anderen Seite erscheint der Tod als der lichtvollste Anfang des geistigen Erlebens, als dasjenige, was etwas Sonnenhaftes ausbreitet über das ganze spätere Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, dasjenige, was am meisten mit Freuden die Seele durchwärmt im Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, dasjenige, auf das immer wieder mit tiefer Sympathie zurückgeblickt wird. Das ist der Moment des Todes. Wenn wir ihn in irdischen Ausdrücken schildern wollen: Das Allererfreulichste, das Allerentzückendste im Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt ist, von der anderen Seite angesehen, der Moment des Todes."
"Durch dasjenige, was wir uns nun im physischen Leibe erworben haben, bleibt bestehen an der Todespforte, auf die wir hinblicken, unser eigenes inneres Wesen, heraus sich erhebend aus der sinnlichen Umhüllung. Das gibt uns Willensstärke, gefühlsartige Willensimpulse, willensartige Gefühlsimpulse. Die werden wir innerlich gewahr im Anschauen des Wesens, das aus dem Körper entsteigt, das wir nach dem Tode sind. Dadurch sind wir imstande, gleichsam unsere Willensstrahlen zu ziehen. Und wenn wir nun einen solchen Willensstrahl, den wir aus der Kraft des Todes schöpfen, der mit dem Tode geboren wird, hineinstrahlen in die Umwelt, dann löschen wir an einer bestimmten Stelle et was in der Gedankenwelt aus."
"Während wir uns bemühen, hier in der physischen Welt, zu dem Dinge, das wir sehen, einen Gedanken hinzuzufinden, müssen wir in der geistigen Welt, weil uns der Gedanke in Hülle und Fülle zur Verfügung steht, den Gedanken auslöschen, wegschaffen; dann treten uns die Wesen entgegen. Wir müssen Herr werden über den Gedanken, dann treten uns die Wesen entgegen. Und diese Kraft, Herr zu werden über den Gedanken, den Gedanken gewissermaßen aus unserem Gesichtsfelde herauszuwerfen, damit das Wesen uns entgegentritt im Meere der flutenden Gedankenwelt, diese Kraft erhalten wird dadurch, daß uns, als herrlicher Ausgangspunkt unseres geistigen Lebens nach dem Tode, der Anblick des Sterbens, des Todes selbst entgegentritt, der unser Lehrer wird im Auslöschen. Denn der Tod wird für uns nach dem Tode der Lehrer des Auslöschens, der Anreger jener Willenskräfte, durch die wir im flutenden Lichtmeere die Gedanken auslöschen müssen." (GA 161, S. 81, 131, 132)
Läßt sich Rudolf Steiner hier - offenbar aus unmittelbarer Wahrnehmung - zu oben zitierten Superlativen begeistern, so gibt er in der Geheimwissenschaft den nüchtern-wissenschaftlichen Bericht über die Veränderungen des Zusammenhaltes der Wesensglieder im Sterben:
"Während sich beim Übergang in den Schlaf der Astralleib nur aus seiner Verbindung mit dem Ätherleibe und dem Physischen Leibe löst, die letzteren jedoch verbunden bleiben, tritt mit dem Tode die Abtrennung des Physischen Leibes vom Ätherleib ein. Der physische Leib bleibt seinen eigenen Kräften überlassen und muß deshalb als Leichnam zerfallen. Für den Ätherleib ist aber nunmehr mit dem Tode ein Zustand eingetreten, in dem er während der Zeit zwischen Geburt und Tod niemals war . . . Er ist nämlich jetzt mit seinem Astralleib vereinigt, ohne daß der Physische Leib dabei ist. Denn nicht unmittelbar nach dem Eintritt des Todes trennen sich Ätherleib und Astralleib . . . Die übersinnliche Beobachtung zeigt, daß diese Verbindung für verschiedene Menschen nach dem Tode verschieden ist. Die Dauer bemißt sich nach Tagen . . . Sie hängt davon ab, wie stark die Kraft ist, mit welcher bei einem Menschen der Astralleib den Ätherleib an sich hält, welche Gewalt der erste über den zweiten hat. Die übersinnliche Erkenntnis kann einen Eindruck von dieser Gewalt erhalten, wenn sie einen Menschen beobachtet, der eigentlich nach dem Grade seiner seelisch-leiblichen Verfassung schlafen müßte, der sich aber durch innere Kraft wach erhält. Und nun zeigt sich, daß verschiedene Menschen sich verschieden lang wach erhalten können, ohne zwischendurch von dem Schlafe überwältigt zu werden. Ungefähr so lange als ein Mensch sich im äußersten Falle, wenn es sein muß, wach erhalten kann, so lange dauert nach dem Tode die Erinnerung an das eben verflossene Leben, das heißt der Zusammenhalt mit dem Ätherleib . . . Später löst sich dann der Astralleib auch von seinem Ätherleib heraus und geht ohne diesen seine Wege weiter."
"Solange der Ätherleib dem Menschen erhalten bleibt, besteht eine gewisse Vollkommenheit der Erinnerung. Sie schwindet aber in dem Maße dahin, in dem der Ätherleib die Form verliert, welche er während seines Aufenthaltes im physischen Leibe gehabt hat und welche dem physischen Leib ähnlich ist. Das ist ja auch der Grund, warum sich der Astralleib vom Ätherleib nach einiger Zeit trennt. Er kann nur so lange mit diesem vereint bleiben, als dessen dem physischen Leib entsprechende Form andauert." (*Die Geheimwissenschaft im Umriß*, Kap. "Schlaf und Tod" und "Vom Leben des Menschen nach dem Tode")
Wie die Darstellungen Moodies zeigen, begegnet der Sterbende an der Todesschwelle einer Lichtgestalt, die ihm die Kraft verleiht, alles in seinem vergangenen Leben Getane anzuschauen und dieses Anschauen zu erfragen. So tritt auch dem Apokalyptiker (Apok.1, 12-18) die Lichtgestalt gegenüber als Hüter der Todesschwelle und erkraftet ihn.
Im Nachdenken und Mitempfinden der Ausführungen Rudolf Steiners verändert sich, bei aller Betroffenheit und Trauer, der Blick auf das Sterbegeschehen vollkommen gegenüber dem sonst im Abendland üblichen und fragt nach angemessenen Formen der Begleitung. Die seit den sechziger Jahren entstandenen anthroposophischen Krankenhäuser und die Kirchen der Christengemeinschaft haben Aufbahrungsräume oder gar Kapellen geschaffen, die der Würde der Geschehnisse in Gestalt und Farbe zu entsprechen suchen. Voraus gingen die von Rudolf Steiner selbst noch aus der Geistwelt herab-erbetenen und durch ihn der Christengemeinschaft übergebenen Rituale in ihrer Ordnung, wie sie den Sterbeprozeß begleiten können. Der Sterbende und auch der den Sterbenden Begleitende gehen anders auf das Sterben zu, wenn es mit dem durch Anthroposophie Gegebenen oder durch die erneuerten Rituale Ermöglichten geschieht. Der Mut zur Hausaufbahrung wächst. Und wenn nun die durch die lnitiative von Dr. Gisela Reuther entstandenen Särge und deren textile Ausgestaltung all das altväterliche Schnörkelhafte durch einen Anblick ersetzen, der dem neu verstandenen Sterbeprozeß ästhetisch entspricht, so ist damit ein wichtiger Schritt für die Würde des Todes getan. Man muß diese Särge nur einmal gesehen haben, um unmittelbar überzeugt zu werden, daß dies die richtige Richtung ist. So können Ritual, Sarg und Kapelle dem Sterbenden einen Raum schaffen, in dem sich der den Tod Begleitende geistig angemessen bewegen kann. Und darauf kommt es an: daß die Begleitung nicht nur seelisch echt ist, sondern geistgemäß. Dann kann das Gesamt der Sterbebegleitung so sein, wie Rudolf Steiner es beschreibt, daß dem Bestattungsritual als Entlaßkultus ein Empfangskultus durch die Wesenheiten der geistigen Welt entspricht. Müssen die Ritualtexte bis in die Silben und Laute der Geistwirklichkeit entsprechen, so bedarf es sicher noch einiger Anstrengung, nun dem im Sinnesbild nachzukommen.
Diese Intentionen kann jeder an seinem Wohnort unterstützen und durch unbefangene Vorausverfügung schon in die Wege leiten. Seit Jahrzehnten zum Beispiel hat meine Mutter ihr Totenhemd fertig im Schrank liegen; dann kann uns der Viskoseglanz nicht mehr überrumpeln . . .