Stuttgarter Zeitung, 29.12.2001
Flussufer
Tobias Burghardt

Die Leere des Hufschlags
Schon in den ersten Versen dieses Lyrikbandes findet der Leser all jene Motive versammtelt, die ihn im Fortgang der Lektüre begleiten werden: "Manche Winkel des Traums / geben dem Zuflucht, was wir, / wie einst, kaum wieder sein werden. / Ein Pferd und das ausweichende Erinnern / auf einer extremen Piste." Erinnern und Zeit sind die grossen Themen des in Stuttgart lebenden Lyrikers und öbersetzers Tobias Burghardt, der seit langem auch für die Stuttgarter Zeitung schreibt. Zur Kraft des Erinnerns gehören in der Umkehrung immer auch das Vergessen und das Nichts, die "beharrliche Leere des Hufschlags". Im Schatten der Vergänglichkeit pendeln die Gedichte Tobias Burghardts zwischen Träumen und verlorenen Sprachen.
Von der Schwierigkeit des Sagens handeln einige der Texte in "Flussufer": Mit dem "nächtige(n) Blick / der nichts mehr sieht", wollen sie "das verlorene Wort entziffern", gehen der Trias aus "Wasser / Schrift / Zeichen" auf den Grund, obwohl sie doch stets "noch weniger Wörter bewohnen" können. Auf der Suche nach Ruhe gelingt ihnen schliesslich das Kunststück, sich dem Moos und den Gräsern anzuvertrauen und in ihrer Bewegung die gewohnten Verhältnissse umzukehren: "Der Wind hat uns hinter sich gelassen".
Mit der Leichtigkeit plätschernden Wassers schreibt Burghardt vornehmlich kurze, prägnante Gedichte, einen Zyklus aus Haikus etwa. Doch auch jene Verse, die zu Dezimen oder längeren Elegien gefügt sind, erzeugen eine so eigentümliche Stimmung, dass manch harte Genitivmetapher ("Blick der vertauschten Verwaisung", "Faden des Vergessens") den Eindruck kaum schmälert.
Souveräne Eleganz durchzieht diese Gedichte, eine Art poetischer Höflichkeit, die andere Stimmen in den Raum der eigenen Sprache bittet. Die sanften Grafiken des Japaners Taijn Tendo sind Burghardts Versen ebenso wahlverwandt wie die sephardischen Gedichte der 1996 verstorbenen Clarisse Nicoidsky: "Erzähl mir die Geschichte, / die in deinen Augen steht, / wenn du sie am Morgen öffnest, / wenn die Sonne / ihre Lichtnadel / in deine Träume sticht." Burghardt hat die Poeme der französischen Schriftstellerin, von denen er in Anlehnung an den Dichter Juan Gelman sagt, sie seien "diaphan wie ein Feuer", kongenial ins Deutsche übertragen. Vor der öbersetzung ist jeweils das Gedicht in Originalsprache abgedruckt.
So erinnert "Flussufer" nicht nur an eine wunderbare Dichterin, sondern zugleich an das Sephardische, an jene "Sprache der Familie, der Verstecke, der Geheimnisse und der Schrecken", die auch hinter Tobias Burghardts eigenen Versen erkennbar wird.


Nicole Bleutge

Zurück zur Übersicht