Grundschule, 6/98
Einwurzelung und Verdichtung
Peter Buck

Jenseits von Wellenbewegungen didaktischer Entwürfe und Moden hat Martin Wagenschein über mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg Hörer, Leser, Schülerinnen und Schüler fasziniert und inspieriert. Heute - zehn Jahre nach seinem Tod und am Ausgang eines Jahrhunderts, das sich in vieler Hinsicht selbstkritisch auf seine Geschichte zurückbezieht, könnte Wagenscheins pädagogisches Vermächtnis wenn nicht zur Quelle, so doch zu einer erneuten Herausforderung zum Nachdenken werden. Dies zeigt das Buch von Peter Buck in spannender, Geistvoller und überzeugender Weise. Die Aufmerksamkeit des Lesers lockt - bereits ehe er mit der vertieften Lektüre begonnen hat - , sowohl die Gesamt-Komposition des Buches in zehn Variationen, eingeleitet jeweils durch interpretationsoffene Bild-Objekt-Seiten als auch durch die beiden, die eigene Vorstellung unmittelbar mobilisierenden Metaphern, die den engen pädagogischen Fachbezug von vornherein sprengen. Der Leser - schon Wagenschein-Kenner oder noch Neuling - wird von Beginn an sokratisch in Frage-Bewegungen versetzt, in ein Gespräch verwickelt und irritiert:
Er hat ein bibliophiles Lesebuch in der Hand, ästhetisch höchst ansprechend, leserzugewandt, unaufdringlich und dialogisch offen, - ein Ausnahmefall im pädagogischen Bücherregal ?
Die motivierende Anmutung wird in zehn Anschnitten zu einer Einladung, zusammen mit dem Verfasser einen Denk- und Verstehensweg zu gehen. Dies ist die tragende Grundlage der ganzen Schrift und deren Komposition in Aufbau und Sprachform.
Die Einleitung ist somit schon Programm des Ganzen: Die Unabdingbarkeit, selbst zu denken. Sie weist dem Lehrenden die Rolle des Sokrates oder der Hebamme zu, appeliert an Minimalisierung belehrender Worte und methodischer Mittel, drängt auf Konzentration um einen Kern, den schliesslich der Lernende selbst herauspräparieren muss. So kann etwa der erste unkommentierte Bildimpuls "Identity" entweder in seiner irisierenden Erst-Wirkung ausgehalten, vielfältig ausgelegt und eigenständig auf den Text bezogen, auch alternativ veranschaulicht oder einfach durch Weitergehen überschlagen werden.
Die Bezeichnungen "Einwurzelung" und "Verdichtung" verweisen zunächst auf die Lehrkunstidee, die in verschiedenen Stilformen vom Autor und anderen Schülern Wagenscheins schon mehrfach dargestellt worden sind. Ein kommentiertes Literaturverzeichnis hilft dem interessierten Leser, die im Text nur kurz erwähnten Spuren weiterzuverfolgen. Die sich anschliessenden Variationen führen auf Grundlagen und Sinnzusammenhänge zu, eröffnen philosophische Positionen zugleich mit Einsichten in die dahinter stehenden Denkwerkstätten und die jeweiligen Entstehungsgeschichten; sie führen zu Komplexitätsgewinn und Evidenz durch Wechsel, Überschreiten und In-Beziehung-Setzen verschiedener Wissens- und Erfahrungsbereiche.
"Beschädigter Wortgebrauch" ist zunächst beim Begriff "Einwurzelung" abzustreifen. Der geglückte Rückgriff auf Simone Weils Verständnis zeigt - wie schon in Wagenscheins Verwendung - eine über physikalische, empirische, ästhetische u.a. Bereiche hinausweisende Dimension des Lernens auf: die Verpflichtung auf Wahrheit nämlich, die sich nicht mehr als allein immanent begründen und umschreiben lässt, sondern nur in Offenheit auf eine existenziell-religiöse Bestimmung des Menschen begriffen werden kann. Einwurzelung wird so auch zur Metapher für das in Worten kaum mehr zu fassende und doch insistierende Fragen nach dem Ursprung und Ziel des Menschen.
Weniger pädagogisch besetzt ist der Begriff "Verdichtung".
Die Literaturwissenschaft kann nachhelfen. Verdichtung des Verstehens bedarf der Schlüsselphänomene ebenso wie der Schlüsselworte,- begriffe und -sätze als Ausdruck des Verstandenen und individuell Angeeigneten. Dass sich an dieser Stelle der Autor gerade einer literarischen und dann auch einer biologischen Metapher bedient, ist bereits eine wichtige Aussage. Gesucht sind Kategorien für Verstehensprozesse und für den individuellen Wissensaufbau nicht konstruktivistischer Herkunft, sondern vielmehr organ-logischen Ursprungs. Der Autor stellt das Bild des Baumes mit der Biochemie der Fotosynthese und Holzbildung als Verdichtungsprozess uns als Vergleich vor Augen und fordert mit solchen analogien der Materialverdichtung zu einer pädagogischen Wendung auf.
Ein Blick auf die Prozesse des Einwurzeln und Verdichtens geht vor allem dem Zeitaspekt in biografischer Einbettung nach. Es sind meist besondere Zeiten, in denen es "einem kommt" (S. 41). Tagebucheinträge Wagenscheins machen solche Zeiten sichtbar: Einfall, Aufmerksamkeit für das Phänomen, beglückendes Erlebnis, Hin-und Herwenden. Hier öffnet sich ein weites und weithin noch unerforschtes Feld für eine Innenschau des Lernens, für individuelle Lerngeschichten als Teil der Individualgenese. Lerntagebücher, Reisejournale, wie sie etwa Urs Ruf und Peter Gallin (1990) beschreiben, Kartierungen von Denkwegen, weisen eine methodische Richtung in Verlängerung wagenscheinscher Ansätze, doch ganz in seiner Spur. Keine Formalstufen werden gesucht, sondern neue Tiefenparameter des Nach- und Ineinanders genetischen Lernens.
Das Bedürfnis nach Konkretisierung im schulischen Unterricht wächst im Verlauf der Lektüre. Dem kommt die siebte Variation entgegen, in der der Autor eigene Aha-Erlebnisse in einer englischen Schule darstellt, einer Schule, an der erfahren werden kann, dass bedeutsames Wissen persönliches Wissen ist und Bildung persönlichen Wissens auf Expression, auf Ausdruck, genauso angewiesen ist wie auf Impression, auf Wahrnehmung und Beobachtung. Eigentlich sind dies einfachen Einsichten, die aber keineswegs die schulische Lernkultur schon allgemein erreicht haben. Wenn Wahrnehmung zudem untrennbar mit Ästhetik verknüpft wird, muss auf Lehrerseite eine didaktische Ästhetik und auf Schülerseite eine Lernästhetik hinzukommen und gepflegt werden. Einwurzelung und Verdichtung atmen in dieser Verbindung und Rhythmik.
Noch einmal variiert der Autor die Einwurzelungsmetapher um die Grundthemen: Kohärenz des um Verstehen ringenden Ichs, Rätselhaftigkeit der Phänomene, Sprung zu Begriff und Erkenntnis, Aporien, universelle Erkenntnis und Verdichtung in Bildsätzen. Hier wird es den Lesern nicht leicht gemacht, den philosophischen Gedanken in einem eher aphoristischen Stil zu folgen. Doch liegt die Vermutung nahe, dass die Gefolgschaft auch gar nicht gewünscht wird, dass vielmehr auf Denkhorizonte und auf die Natur- und Geisteswissenschaften ergänzende, komplementäre Welten und Weltauffassungen hingewiesen werden soll. Dies zeigt sich u.a. in der Aufforderung, analytische Einsichten auch in Bildsätzen zu formulieren und Fragen, wie diese als sinnvoll zuzulassen: Was will der Horizont sagen?
Eine letzte Variation wendet sich, nach kurzer Einblendung des sozialen Aspekts von Verstehen, dem Willen des Einzelnen als pädagogische Determinante zu; in der Reformpädagogik anthropologisch besonders hervorgehoben, wenngleich nicht immer konsequent in Lehr-Lern-Handlungen umgesetzt, in der gegenwärtigen didaktischen Literatur eher selten berücksichtigt. Die wenigen Andeutungen des Autors drängen auf Weiterführung des Themas, dass bewusst unabgeschlossen bleibt. So wird das Buch zu einem, das Fragen offen lässt und das man weiterdenken muss.
Gerade dann, wenn man durch manche in wissenschaftlichen Termini und Theorien erstarrte pädagogische Literatur ernüchtert wurde und sich eher einem lebendigen direkten Gedankenaustausch hingeben möchte, wenn man Freude hat an der Interpretation von Bildern, an der Inspiration durch Bildersprache und Geschichten, am explorativen Herantasten an tiefer liegende Zusammenhänge, dann wird die Lektüre dieses Buches zum persönlichen Gewinn.


Hildegard Kasper, Dr. phil, Prof., Pädagogische Hochschule

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