Das Goetheanum

Sonnensprache von Martin Barkhoff Achim Hellmich

«Verstehen der Gefühlsumschwünge»

Heute denken die Menschen wesentlich bildhafter als zu Rudolf Steiners Lebzeiten – davon ist der Publizist Martin Barkhoff überzeugt. Daher sei es jetzt möglich, Steiners eurythmische Formenideen zu den Wochensprüchen des ‹Anthroposophischen Seelenkalenders› viel konkreter auszuführen als damals. Barkhoff hat diese Formensprache weiterentwickelt, Formen hinzugefügt und Farben geändert. Zwei Bücher zur Sonnensprache sind daraus entstanden.

In Formen und Bildern denken: Martin Barkhoff

Was war das Ziel und der Anlass Ihrer Arbeit, die Eurythmieformen Rudolf Steiners weiterzuentwickeln?

Das Ziel war, den Menschen ein unbekanntes Werk Rudolf Steiners verfügbar zu machen. Es handelt sich um die vielbesprochene ‹Philosophie der Freiheit› in Zeichnungen statt in Worten. So sagte er am 3. Dezember 1917: «Ich würde zum Beispiel sehr gern den Inhalt meiner ‹Philosophie der Freiheit› zeichnen.
Das ließe sich ganz gut machen. Nur würde man es heute nicht lesen können. Man würde es heute nicht empfinden können, weil man auf das Wort dressiert ist.» (Das grafische Werk, Seite 17)

Verstehen über die Formen

Er wollte es so gern, dass er es quasi insgeheim zwei Jahre später auch gemacht hat. Das hat man nur bisher nicht gemerkt. In der ‹Philosophie der Freiheit› geht es ja darum, die Weltwirklichkeit zu erleben als das Zusammenwirken von Wahrnehmungssubstanzen und Denksubstanzen. Darum geht es auch in seinem Meditationsbuch, dem ‹Anthroposophischen Seelenkalender›. Für den Seelenkalender hat er diese Inhalte gezeichnet. Seitdem sind 90 jahre vergangen. Und heute können die Menschen das verstehen.
Anlass der Arbeit war ein Arbeitskreis über die Wochensprüche. Nach einer vertieften Auseinandersetzung begann ich, den Freunden die Formen zu erläutern.

Nicht die Sprüche, sondern die Formen waren für Sie entscheidend?

Ja. Mit den Sprüchen habe ich immer gelebt, sah da aber keinen Handlungsbedarf. Ich habe gelernt, dass das vertiefte Verstehen der Sprüche durch die Formen kommt, nicht durch die Sprüche allein.

Dieser ‹Seelenkalender› ist ein Herzstück der Anthroposophie, versucht er doch die kosmische Welt, den Makrokosmos, mit dem Mikrokosmos des Menscheninneren zu verbinden. Die Wochensprüche und die von Rudolf Steiner dazu gegebenen Eurythmieformen sind in ihrer Form- und Farbgebung sehr differenziert. Sie können, wenn man diese Formensprache recht zu lesen versteht, die Tür zur okkulten Sprache öffnen. Würden Sie dem zustimmen?

Ja. (Martin Barkhoffs Antwort kommt spontan, aber dann schließt er die Augen und versinkt in ein langes, konzentriertes Schweigen. Schließlich durchfährt es ihn, er greift zu seinem Buch ‹Deutungsvorschläge zur 'Sonnensprache'›, schlägt Seite 7 auf und fragt:) Darf ich diese knappe Formulierung dazu vorlesen?

Natürlich!

«Wenn man wiederholt von der einen Form zu anderen wechselt, wenn man zunächst den leisen Gefühlston bemerkt, der sich im Nachfühlen der einen Form ergibt, und dann zu der anderen übergeht, bringt man die Formen zum Sprechen. Sie sprechen sich dann über ihr Wesen aus. Wichtig ist, auf den zunächst noch ganz zarten Gefühlsumschwung aufmerksam zu werden, der sich beim Übergang zur andern Form ergibt. Damit beginnt das Lesen.»

Steigern der inneren Bewegung

Nun sind die Eurythmieformen ja Bewegungsformen, sollen mit dem ganzen Körper erfasst, eurythmisiert, ja auch gedacht werden. Lassen sich diese Formen denn überhaupt ohne Bewegungen verstehen?

Man kann Formen ohne Bewegung nicht erfassen, nicht einmal mit dem Auge. Der Eigenbewegungssinn des Menschen lebt ganz stark im Auge. Dieses muskuläre Organ tastet alle Formen, die man wahrnimmt, als Muskelbewegung ab. Das ist die erste Stufe des Formenwahrnehmens. Man muss nun dieses innere Bewegtheitsmoment steigern. Das ist nicht unbedingt die Bewegung des ganzen Körpers, sondern es kommt zentral darauf an, innerlich in Bewegung zu kommen.
Wer also denkt, dass er es passiv und steif aufnehmen kann, wird keine brauchbaren Erlebnisse haben. Rudolf Steiner hat ganz am Anfang die Eurythmie so angelegt, dass die Menschen sich vorstellen sollten, sie machten die Bewegung, ohne sie real auszuführen. Die Vorstellung fand er sogar wichtiger als das körperliche Ausführen.

Soweit ich das von Eurythmisten weiß, diese lebendige Vorstellung immer die Voraussetzung, bevor man die Bewegung selbst ausführt. Doch die Ausführung ist dann mehr als die Vorstellung.

Aber die Eurythmisten wollen ja auch Kunst machen! Rudolf Steiner hat dann diese ‹nichtbewegte Eurythmie›, die nicht bis in den Körper kam, als Esoterik angesehen. Man muss das Esoterische unterscheiden vom Künstlerischen.
Die innere Bewegung kann man nicht hoch genug einschätzen, das ist allem esoterischen Streben so. Die Eurythmie ist eigentlich ein Schulungsweg zum Lesenlernen der okkulten Schrift. Das der Entwicklungsschritt in der Tanzkunst, den Rudolf Steiner vollzogen hat. Das finden Sie nicht in der Pantomime, nicht Ballett, nicht im indischen Katak. Mit Eurythmie wird erstmals der gesamte Geistgehalt differenziert ergriffen und dargestellt, kommt okkulte Schrift durch den Tänzer in die Erscheinung.

Physiologisch konkret

Sie haben den Steiner-Eurythmieformen stimmte Elemente hinzugefügt. Welche sind das, und warum geschah das? Im Einzelfall treten Gesichtszüge auf. Das wirkt für mich plakativ und zu konkret, ist der Inspiration eher abträglich. Warum ist Ihnen das so wichtig?

Weil es Steiner so wichtig ist. Er ist in seinem gesamten Kunstverständnis so extrem konkret. Das Studium des alten Goetheanum-Baus gibt mir dieses physiologisch Konkrete. Der Große Saal war als Kopf gestaltet: rechtes Auge, linkes Auge, Stirn, Nase, Mund, Ohren, Hinterkopf. Die zwölf Motive in der Kuppel sind gleichzeitig physiologische Aussagen über den Menschenkopf und seine Organe. So meint er das. Und so meint er das auch bei den Eurythmieformen. An den Formen des Spruches 8 sah ich plötzlich: He, das sind ja die Formen für die menschlichen Augen und für die Stirn: «Es wächst der Sinne Macht.» Genau das findet da im Kopf statt. Das ist kein Wunder: Der ganze «Seelenkalender» ist ein Lehrbuch von Wahrnehmen und Denken wie die «Philosophie der Freiheit» auch. Was passiert im Gehirn beim Denken, was geschieht beim Wahrnehmen in den Sinnesorganen? Das wird okkult-physiologisch konkret geschildert. Das ist Rudolf Steiner!

Statt Satzungen Organigramme

Warum hat Rudolf Steiner das nicht selbst ausgeführt?

Rudolf Steiner wusste, dass die Menschen seiner Zeit es noch nicht verstehen würden. Er hat beispielsweise in den esoterischen Stunden bis 1911 versucht, den Menschen das nahezubringen. Wenn man dann sieht, wie völlig unterschiedlich und missverständlich das war, was diese Menschen von der Tafel abgemalt haben, so erkennt man: Sie waren außerstande, die Formen zu begreifen. Ab 1911 gibt er die Formen nur noch für die Kunst an, ohne weiter darüber zu sprechen. Aber heute können die Menschen in Formen und Bildern denken.

Woran haben Sie das beobachtet?

Das wird in der Kommunikationswissenschaft weithin so gesehen. Man spricht vom ‹iconic turn», von der Bildwende. 85 Jahre nach Steiners Tod ist ein Denken in Bilder- und Zeichenfolgen eine vielgeübte Zivilisationstechnik. Statt mit wortreichen Satzungen regelt man heute Zusammenarbeit lieber durch Organigramme. Bildaussagen und Situationen werden vom heutigen Publikum viel schneller und vor allem auch sicherer gelesen als vor drei Jahrzehnten.

Was mich verwirrt und gestört hat beim Lesen Ihres Buches: Ich konnte nicht erkennen, was die Original-Steiner-Formen sind und was hinzugefügt ist. Warum haben Sie das nicht gekennzeichnet, etwa durch eine Folie mit Ihren Veränderungen, die man über die Steiner-Formen legen kann?

Um das festzustellen, gibt es ja das Steiner-Buch «Eurythmieformen» (GA K 23). Eine Folie oder Kennzeichnung halte ich für völlig falsch. Das führt zu einem nachcheckenden Denken. Das mögliche Verstehen der Gefühlsumschwünge wäre verschlossen. Wenn Sie im Theater sitzen und prüfen, was der Regisseur vielleicht gekürzt oder umgestellt hat, bekommen Sie vom Stück nichts mit.

Mich hat es trotzdem verwirrt. Ist es legitim, so vorzugehen?

Gleich am Anfang des Buches steht: ««Ein Seelenkalender in Worten und Formideen von Rudolf Steiner». Es sind also Formideen. Damit man sie anschauen kann, müssen sie noch grafisch realisiert und interpretiert werden. Die Dramensiegel, die man kennt, sind auch nicht von Steiner gezeichnet, sondern von anderen interpretiert! Das vergisst man leicht.
(Trotz der Argumente von Martin Barkhoff werden wir uns nicht einig und verlassen diesen Gesprächspunkt. Wir wenden uns dem Problem der Meditation zu.)

Technisch auf dem neuesten Stand

Ihr Buch ‹Deutungsvorschläge zur Sonnensprache› ist ein sehr gründlich erarbeitetes Buch, das begeistern kann. Diese Perfektion und Ausführlichkeit hat aber auch ihre Schattenseite, denn sie engt mein lebendiges Denken ein und macht es zu einem nachvollziehenden Denken. Wie kann ich mich dennoch meditativ leeren?

Das Buch ist für diejenigen nützlich, bei denen es die kreative Formenfantasie freisetzt. Wenn man spürt, dass man in ein nur nachvollziehendes Denken kommt, sollte man es zuklappen und sich mit den Formen selbst beschäftigen. Einfach mit den Formen spielen ist besser, als irgendein intellektuelles Zeug aus einem Barkhoff-Buch aufzunehmen.

Ihre Grafik ist im Gegensatz zur handgemalten von Rudolf Steiner am Computer entstanden. Ich war gerade in Florenz und habe mir dort Giotto-Marien-Bilder im Original angesehen. Als Computerbilder möchte ich sie nicht erleben müssen. Führt diese Perfektion nicht gleichzeitig zu einer toten Form?

Ich habe das nicht von mir aus gesucht und empfand es als Qual, das lernen zu müssen. Es stellte sich aber heraus, dass es aus finanziellen und auch anderen Gründen die einzige Möglichkeit war, zu einer druckfähigen Qualität zu kommen. Grafiker sagten mir, es sei, bei der Qualität, die ich haben wollte, auf grafischem Wege völlig unbezahlbar, etwa 50000 bis 60000 Euro. Das war jenseits aller Möglichkeiten.

Rudolf Steiner war übrigens der Ansicht, die Sachen auf dem jeweils technisch neuesten Weg zu machen, und ich war sehr erstaunt, wie lebendig auch diese Computergrafik dann war. Es handelt sich ja nicht um Bilder, sondern um Zeichen, um Schrift. Und die kommt heute fast immer aus dem Computer. Der Computer ist für diese Arbeit nichts anderes als ein verbessertes Kurvenlineal. Zur Bildwiedergabe würde ich den Computer nicht nehmen.

Sich von Vorstellungen lösen

Letztlich geht es ja um den Zugang zur okkulten Sprache. Deshalb möchte ich wieder zum Anfang unseres Gespräches zurück. Welches ist der Königsweg zum Verstehen der okkulten Sprache?

(Nach langer Denkpause:) Der Königsweg ist Mut. Man muß den Mut zum Auslöschen eines reichen inneren Bilderschatzes haben. Das tut richtig weh. Aber anders gelingt es nicht, das Gefühl zu einem Erkenntnisorgan zu läutern. Solange das Gefühl noch an Vorstellhaftem hängt, solange ist es subjektiv und leistet keine Erkenntnisarbeit. Erst der Mut, sich von dem, zu trennen, was Vorstellungsinhalt ist – alles zu löschen, auch spirituell Liebgewordenes –, läutert das Gefühl so weit, dass es anfängt, ein wirkliches Erkenntnisorgan zu werden. Das ist der Königsweg.


Zurück zur Übersicht