Das Goetheanum

Der Luftballon und andere Geschichten
Balz Raz

Vom Naiven
Unsere Zeit, die aus dem Stadium der Unschuld längst herausgefallen ist, die tief verstrickt mit dem Bösen ist und deren beste Kräfte der Befreiung aus diesem gewidmet zu sein scheinen, hat nur wenig Empfindungsvermögen für das Kindliche, das Unschuldige, das Naive. Ja, "naiv" ist zum Schimpfwort für "nicht auf der Höhe der Zeit stehend" geworden.
Fasst man aber das Naive als den Zustand des Ungetrenntseins oder Weniger-Getrenntseins von geistigen Wesen auf, so erschliesst sich nicht nur die Blickrichtung auf verloren gegangenes Naives, sondern auch diejenige für künftig zu gewinnendes, neu zu erarbeitendes "Naives". Besonders schön ist es dann, wenn beides sich in der Gegenwart miteinander verbinden kann wie in den Geschichten von Balz Raz.
Viele dieser Geschichten beginnen in Alltagssituationen am Bahnhof; am Küchenherd oder am Wickeltisch, wo, angeregt durch die unschuldigen Öusserungen des ganz kleinen Kindes, sich bald die festen Wände auflösen und den Blick auf eine luftig farbige Märchenwelt freigeben. Dabei kann der Erwachsene nicht ohne Vorbereitung folgen, sondern muss erst seine Gedanken- und Empfindungswelt säubern und reinigen, damit nicht finstere, seeräuberartige Gedanken-Gestalten seine Gedanken-Luftschiffe entern und ihren eigenen Zielen zuführen. Erst dann verbindet sich der kindlich-naive Blick mit neu erworbenen, neu erarbeiteten "naiven" Gedanken zu einer heiteren, jauchzenden Harmonie.
Andere Geschichten beginnen gleich in jener Welt voller Teufelchen und Engel und beleuchten von dorther das Geschehen in den Seelen der Menschen, etwa in einem festlichen Konzertsaal.
Alle Geschichten durchweht ein frischer, heiterfreudiger Atem, dessen "Naivität" aus tiefster, ernstester Auseinandersetzung gewonnen ist.


Johannes Brakel

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